Kleine Seelen, großer Schaden

Laut einer YouGov-Studie achtet über die Hälfte der befragten Eltern seit Beginn der Corona-Pandemie verstärkt auf die Gesundheit der eigenen Kinder. Und die Sorge ist nicht unberechtigt, wie das Interview mit dem Diplom-Psychologen Steffen Elsner zeigt. Allerdings liegen manche Schäden tiefer, als so manches Elternteil vermuten würde. Wir fragen unter anderem nach, wie Eltern ihre Kinder auch emotional absichern können. 

Redaktion: Herr Elsner, alleine viele Erwachsene gestehen sich oft eine psychische Überlastung nicht ein. Wie gewinnt da die psychische Gesundheit der Kinder an Bedeutung?

Steffen Elsner: Seitdem sich der Mensch Gedanken über die Welt mittels eines mentalen Apparates macht, ist er genau auch dort für Störungen und Leiden anfällig. Das gilt für Erwachsene wie für Kinder. Die Pionierin in der psychotherapeutischen Behandlung von seelischen Erkrankungen bei Kindern war Hermine Hug-Hellmuth in Österreich um 1912. Sie entwickelte auf Basis der Psychoanalyse Sigmund Freuds die Grundpfeiler der kinderanalytischen Behandlungstechnik. Anna Freud und Melanie Klein systematisierten und erweiterten das kinderanalytische Handwerkszeug. 

Psychoanalytischen Verfahren kommt heute insbesondere den sehr jungen Kindern zugute, da sie weniger kognitive Voraussetzungen auf Seiten der Kinder bedürfen, wie etwa bei der Verhaltenstherapie.

Redaktion: Und wie macht sich eine psychische Belastung bei den Kleinen bemerkbar?

Steffen Elsner: Besonders kleinen Kindern fällt es schwer, innerseelische Konflikte und Sorgen sprachlich mitzuteilen. Häufig äußern sich ihre psychischen Probleme daher über den Körper oder auf der Verhaltensebene. Typische Symptome sind: 

  • Gehemmtheit/Lustlosigkeit beim Spielen 
  • Erhöhte Reizbarkeit, Wutanfälle oder störendes Verhalten 
  • Erhöhte Ängstlichkeit 
  • Traurigkeit, gedrückte Stimmung, Hoffnungslosigkeit 
  • Ein unglücklicher Eindruck 
  • Rückzug von den Eltern oder Gleichaltrigen 
  • Verminderte Aufmerksamkeit und Konzentration/Lernschwierigkeiten 
  • Verminderte Kreativität/Fantasie 
  • Häufige Bauch oder Kopfschmerzen 
Redaktion: Wie sollten Eltern reagieren, wenn sie etwaige Symptome feststellen? Und ab wann ist es an der Zeit, professionelle Hilfe zu suchen?

Steffen Elsner: Wichtig ist immer zu verstehen, was der Grund für die Beschwerden ist und darüber mit dem Kind ins Gespräch zu kommen. Manchmal gelingt das aber nicht oder nicht mehr. Grundsätzlich gilt: Wenn Wutausbrüche, Weinen, Trauer, Ängste und andere Symptome nicht mehr von den Eltern durch ein gemeinsames, tröstendes Gespräch zu regulieren sind, liegt der Verdacht auf eine seelische Problematik nahe, die nicht nur eine vorübergehende Phase in der Entwicklung ist. Klinisch bedeutsam werden Symptome immer dann, wenn: 

  • Sie dauerhaft sind.
  • Symptome unangemessen für die Entwicklungsphase des Kindes erscheinen.
  • Sie die normale Entwicklung des Kindes beeinträchtigen. 
  • Das Kind in der Alltagsbewältigung stark einschränkt ist, und 
  • im sozialen Umfeld, also Kindergarten, Schule oder den familiären Beziehungen Konflikte und Leid ausgelöst werden.
Redaktion: Und ab wann ist es an der Zeit, professionelle Hilfe zu suchen?

Steffen Elsner: Treffen diese Punkte zu sollten sich Eltern professionelle Hilfe bei psychotherapeutisch arbeitenden Psychologen oder Ärzten holen. Auch im Zweifelsfall sollte eine Einschätzung vorgenommen werden. Im Idealfall gibt es Entwarnung. Umgekehrt ist das problematischer. Also wenn Eltern zu lange warten und die verständliche aber leider irrtümliche Hoffnung haben, dass sich das Problem wieder „auswächst“. 

Wir wissen, dass die Prognose einer psychischen Erkrankung im Kindesalter umso besser ist, je früher sie diagnostiziert und behandelt wird. 

Redaktion: Wer aus dem Umfeld der Kinder wendet sich meist an sie? Und mit welchen Anliegen?

Steffen Elsner: Meist kommen beide Eltern mit ihrem Kind. Wir bemühen uns, beim ersten Termin immer Mutter, Vater und das Kind zu sehen, damit alle Perspektiven gehört und einbezogen werden können. Neben den Eltern kommen aber auch Betreuer:innen von Wohngemeinschaften, Adoptiv- oder Pflegeeltern mit ihren Kindern zu uns in die Spezialsprechstunde.  

Alle Kinder, die sich unserer Sprechstunde vorstellen haben Probleme mit Wut, Konzentration, Gereiztheit, mit dem Einhalten von Regeln, Lernschwierigkeiten oder sie haben oben genannte Probleme. Meine Aufgabe ist dann erst einmal zu sortieren, wie oft diese Beschwerden vorkommen, wie lange sie schon andauern, wie intensiv sie sind, wie viel Leid und Beeinträchtigung sie im Alltag verursachen. Meist besteht aufgrund des Erstgespräches in der Sprechstunde dann der Verdacht auf eine psychische Erkrankung beim Kind, sodass wir eine Diagnostik anschließen, um eine sichere Diagnose stellen zu können. Stellen wir dann eine psychische Erkrankung, beispielsweise eine kindliche Depression, eine Angststörung oder ein ADHS fest, dann können wir einem Teil der Kinder im Rahmen eines aktuell laufenden Forschungsprojektes zeitnah eine Psychoanalytische Kurzzeittherapie über etwa ein halbes Jahr anbieten. 

Hier wird dann die Problematik des Kindes mit einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten einmal pro Woche im gemeinsamen Spiel und Sprechen bearbeitet. Jede vierte Sitzung wird mit den Eltern gesprochen, auf deren Mithilfe wir immer angewiesen sind. 

Redaktion: Wie hat sich die Corona-Krise auf die psychische Gesundheit von Kindern ausgewirkt? Was waren belastende Faktoren?

Steffen Elsner: Als Psychotherapeut und Psychoanalytiker sehe ich in meiner wöchentlichen Sprechstunde am Universitätsklinikum Leipzig viele Familien mit ihren Kindern zwischen 3 und 9 Jahren. Die Belastung von Eltern und Kindern durch Homeschooling, Tele-Arbeit der Eltern, Kontaktbeschränkungen und Schließungen höre ich in jedem Gespräch und sie wird auch emotional spürbar. 

Meiner Erfahrung nach sind die Auswirkungen der Corona-Pandemie für Kinder besonders schwer, da sie abhängig sind von ihren Eltern und deren Möglichkeiten, mit der Pandemie zurechtzukommen. 

Und da gibt es große Unterschiede zwischen den Familien, was finanzielle Mittel, Bildung, Arbeitsbelastung oder Gesundheit angeht. Vor allem Kindergarten- und junge Schulkinder leiden unter den Pandemie-Regelungen und erfahren aufgrund des häufigen Wechsels zwischen Öffnung und Schließung der Schulen und Kitas eine große Unsicherheit. 

Aus aktuellen Studien wissen wir: Eltern und Kinder beschrieben während der Pandemie mehr psychische Probleme (17.8 Prozent vs. 9.9 Prozent) und ein höheres Angstlevel (24.1 Prozent vs. 14.9 Prozent) als vor der Pandemie (Ravens-Sieberer et al., 2021). 

Wie sich diese Belastungen langfristig auswirken, werden wir wohl erst in einigen Jahren wissen. Sicher ist aber, dass Kindern beispielsweise Sportvereine fehlen, in dem – wie mir ein 5-jähriger Junge in meiner Sprechstunde neulich sagte – man wild herumtoben kann, um seine Wut loszuwerden. 

Durch die Kontaktbeschränkungen fehlte auch soziale Nähe zu Freunden oder anderen Bezugspersonen. 

Redaktion: Verschwindet eine psychische Belastung der Kinder automatisch, sobald sich der Alltag wieder normalisiert? Was sind mögliche Langzeitfolgen für Kinder und Teenager?

Steffen Elsner: Das ist schwer zu verallgemeinern aber meine Erfahrung aus den Gesprächen mit Kindern, Eltern, Betreuer:innen und Kolleg:innen ist zweierlei: Auf der einen Seite brachte die erneute Öffnung von Kindergärten, Schulen, Sportvereinen usw. eine große Entlastung für Kinder und Eltern. Das Homeschooling und die Doppelbelastung für die Eltern aus Arbeit und Kinderbetreuung fällt weg. Streitigkeiten und Anspannung in der Familie sind weniger häufig. Die Kinder sehen nun wieder ihre Freunde in Kindergarten, Schule und in der Freizeit. Auf der anderen Seite blieben seelische Belastungen bestehen, die sich aus Ansteckungsängsten und dem Vermeiden sozialer Nähe überhaupt erst entwickelten.

Redaktion: Was sind mögliche Langzeitfolgen für Kinder und Teenager?

Steffen Elsner: Ein Mädchen beispielsweise, entwickelte durch das wiederholte Händewaschen infolge der Hygieneregeln einen Waschzwang. Jugendliche haben sich teilweise an die verordnete Isolierung gewöhnt und in manchem Fall spielte sie einer ohnehin vorhandenen Rückzugstendenz in die Hände, was die Gefahr von Suchterkrankungen, Essstörungen oder Depression erhöht haben mag. Oder aber es kam zu massivem Überschießen von aggressiven Triebenergien, weil Jugendliche sich wieder auf der Straße versammeln, flirten, feiern und trinken durften. 

Insgesamt ist aus heutiger Perspektive schwer zu sagen, welche langfristigen Auswirkungen die Pandemie und deren Maßnahmen auf Kinder- und Jugendliche haben werden. 

Redaktion: Was ist ein positiver Aspekt, den sie der Corona-Krise aus psychologischer Sicht für Kinder und Jugendliche abgewinnen konnten?   

Steffen Elsner: Vor allem zu Beginn der Pandemie: Mehr Zeit in der Familie sowie neue Erfahrungen. Eine Mutter beschrieb mir eindrücklich, was die Zeit der Pandemie neben Maskenpflicht, starren Regeln zum Händewaschen, plötzlicher Videotelefonie ebenfalls bedeutete: Abenteuer im Wald, neue Freunde in der Nachbarschaft kennenlernen, Gartenarbeit, erstmals Sehnsucht nach Kindergartenfreunden spüren, Briefe diktieren und bekommen, neue Fragen stellen und Draußen sein so viel wie noch nie. 

Titelbild: © Steffen Elsner

 

Über den Experten
Steffen Elsner, Diplom-Psychologe, studierte Psychologie und Sexualwissenschaft an der Humboldt-Universität und der Charité in Berlin. Er ist Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker (DPV, IPA).
Seit 2018 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Leipzig (bei Prof. Dr. med. Kai von Klitzing). Dort koordiniert er die Spezialsprechstunde für Vorschulkinder und junge Schulkinder (3-8 Jahre) mit emotionalen Problemen.
Er war Stipendiat des Forschungsförderungs-Stipendiums des Sächsischen Institutes für Psychoanalyse und Psychotherapie – Therese Benedek – e.V. Leipzig (SPP). 2019 erhielt den Förderpreis der Stiftung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) sowie einen Research Grant der International Psychoanalytical Association (IPA).
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